Die EU - das offene Gefängnis?
Europa und die Freiheit
Zukunft beweist Vergangenheit: Der Autor hielt zum 70. Geburtstag seines Vaters im Januar 2012 eine Festrede.
Als ich meinen Schreibtisch aufräumte, um meine Neujahrsvorsätze einzuhalten ;), fiel mir eine Rede in die Hände, die ich zum 70. Geburtstag meines mittlerweile verstorbenen Vaters im Jahr 2012 hielt. 13 Jahre später dachte ich mir, ist die Zeit reif, zurückzuschauen. Siehe da, vieles, was ich damals unter dem Titel „Europa und die Freiheit“ nur skizzierte, ist leider eingetroffen. Der moralische, soziale, wirtschaftliche Verfall der westlichen Staaten, die verbale Bedrohung (Faeser und Paus) und de facto Einschränkung der Meinungsfreiheit durch den Digital Services Act und die Drohung, Wahlen ggf. annullieren zu lassen, weil angeblich ausländische Einmischung stattgefunden hat (Ex-EU-Kommissar Thierry Breton und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier), in Wahrheit das Ergebnis aber nicht passen könnte. Die größte Kanzlerin aller Zeiten, Angela Merkel (CDU) hat in Thüringen immerhin so lange wählen lassen, bis das Ergebnis gefiel.
Die Rede zu Ehren meines Vaters schrieb ich zum einen, weil er sich das Thema explizit gewünscht hatte. Beim Schreiben der Rede kam mir dabei zugute, dass ich schon immer ein politischer Mensch war. Nicht in dem Sinne, dass ich selbst Politik machen wollte, sondern dass ich mich als deutscher „Staatsbürger“ für die Demokratie interessierte und in der Verantwortung fühlte, deren Entwicklung konstruktiv kritisch zu begleiten. Somit ist die nun nachfolgende Rede ein historisches Zeugnis und Spiegel meiner Gedanken des Jahres 2012. Ich würde heute sicherlich vieles auf andere Art formulieren.
Die Revolutionen zeigten uns die hässliche Seite der Demokratie
Der französische Publizist, Historiker und Politiker Alexis de Tocqueville (1805–1859), verfasste in seinem im Jahr 1835 erschienen Hauptwerk „Über die Demokratie in Amerika“[1] eine heute mehr als relevante These: Der schrankenlosen Demokratie wohnt ein universaler Trend zur Gleichheit und eine Tyrannei der Mehrheit zulasten der politischen und sozialen Freiheitsinteressen des Individuums inne. Wie steht es also um die Freiheit in unserer Gesellschaft? Welchen Wert hat die Freiheit heute noch, wo sie doch ständig durch die Gleichheit bedroht ist. Der Schlachtruf der Französischen Revolution „Liberté, Égalité, Fraternité" klingt zunächst einmal wunderbar harmlos: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Das können wir doch alle bejahen. Die Französische Revolution versprach, dass alle endlich frei und glücklich sein würden, wenn erst einmal die bislang Herrschenden beseitigt werden. Doch offensichtlich lag ein Missverständnis vor: Die Revolutionäre und mit ihnen die befreiten Franzosen verwechselten die Freiheit der Person mit der Freiheit der Nation und überzogen erst einmal ganz Europa mit Krieg. Auch die russische Oktoberrevolution wollte die Menschen vom zaristischen Staat befreien und obendrein noch die Herrschaft von Menschen über Menschen abschaffen. Übrig bleibt jedoch nur, dass diejenigen, die den real existierenden Sozialismus betrieben, die Realität der Sklaverei nicht erkannten, mit der sie ganze Völker gefangen hielten. Die Freiheit ist immer dort in Gefahr, wo sie ihren Wirklichkeitsbezug, ihr letztes Ziel aus dem Auge zu verlieren droht. Freiheit ist im Wesen der Person begründet. Der Philosoph und Mediziner Hans Thomas[2] hat dazu drei Regeln aufgestellt: "Jede Freiheit hat ihren Preis, trau keinem, der den Preis nicht nennt und als letzte Regel trau keinem, der die Wirklichkeit nicht anerkennt. Nur wer der Wirklichkeit gehorcht, ist frei."
Freiheit versus Gleichheit
Auch das in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend dichter geknüpfte Netz der sozialen Sicherungssysteme hat dem mehrheitlich geäußerten Ziel der Bekämpfung materieller Ungleichheiten und der Herstellung von Verteilungsgerechtigkeit gedient. Dabei ist der Sozialstaat jedoch zutiefst ungerecht, weil er seine Leistungen willkürlich und nicht selten an den gerechten Ansprüchen Bedürftiger vorbei verstreut. Erkauft werden diese sogenannten sozialstaatlichen Errungenschaften mit einer schrittweisen Einschränkung der Privatautonomie und damit der individuellen Freiheitsrechte des Einzelnen. Selbst der sozialdemokratische Bürgermeister vom Berliner Stadtteil Neukölln Heinz Buschkowsky gestand im Gespräch mit der Welt Online ein: „Lange Abhängigkeit und Verharren am Tropf des Sozialsystems raubt den Menschen ihren Veränderungswillen, ihre Kreativität und ihren Tatendrang. Der Scheck vom Jobcenter ist wie ein moderner Ablasshandel. Nimm deinen Scheck, setzt dich vor deinen Fernseher, aber halte deinen Mund. Ein Pfarrer hat mir einmal gesagt, er empfinde unser Sozialsystem als „asozial“. Dass mittlerweile selbst gestandene Sozialdemokraten kein gutes Haar mehr am parteiübergreifenden Konsens an der „Wohlfahrtrepublik Deutschland“ lassen, sollte allen, Bürgern, Intellektuellen und wirtschaftlichen Eliten ein Warnsignal sein. Doch der Kaste der Berufspolitiker ist die menschliche Würde des Individuums offensichtlich zunehmend egal. Anstatt zu fordern und zu fördern, verdammt das Steuer- und Sozialsystem überspitzt ausgedrückt entweder zur Passivität oder Landesflucht. Die Systemkrise der deutschen Demokratie ist schon lange da und ist Teil der europäischen Identitätskrise – doch noch wird sie überdeckt durch den materiellen Reichtum des Landes, der jede Form des Protestes durch Geldsegen erstickt. Währenddessen üben sich die Politiker, die – um mit Max Weber zu sprechen – „von Politik leben“ und Politik zu ihrem Beruf gemacht haben, in Bunkermentalität durch apparative, bürokratische, nomenklatorische, kastenartiges Gepräge. Der Wandel von parlamentarischer Demokratie zu Partitokratie, zu selbstreferenziellen und nahezu austauschbaren Parteienherrschaft, hat das Repräsentationsverhältnis zwischen Abgeordneten und Wählern jeden Tag hinfälliger gemacht. Als sei sie ein Geschäft wie jedes andere, ist die Politik immer mehr zur Privatsache geworden. Wird aber Politik und somit die öffentliche Sphäre privat, so geschieht zweierlei: Zum einen hat das Eigeninteresse des Politikers oder das seines Standes, seiner Kaste, nichts mit den Interessen und Werten seiner Wähler zu tun, die er doch repräsentieren soll. Und zum anderen wird dem Bürger seine per Wahl übertragene Souveränität entzogen.
Dass es so ist, zeigen die rapide abnehmenden Mitgliedschaften in allen Parteien und das zunehmende Desinteresse des Souveräns an Wahlen sowie am politischen, mitunter waghalsigen und geldverschwenderischen Management. Als Beispiele seien, genannt: die Subventionierung der heimischen Landwirtschaft, der Solarindustrie im Rahmen der sogenannten Energiewende zulasten aller, mit Ausnahme mancher, der finanziellen Verschwendung bei Großbauprojekten, wie der Hamburger Elbphilharmonie, ganz zu schweigen vom Berliner „Großflughafen“ BER. Neben der Verschwendungssucht ist aber die Umverteilungssucht die größte Bedrohung der Freiheit. Denn der „deutsche Staat“ hat sich längst vom Prinzip des Sozialstaates verabschiedet und ist auf dem besten Weg, ein Wohlfahrtsstaat zu werden. Ersterer ist es zu eigen, seinen Bürgern insbesondere in unverschuldeten Notlagen, die aus eigener Kraft nicht mehr bewältigt werden können, zur Seite zu stehen und darüber hinaus, durch langfristig angelegte Maßnahmen diesen Notlagen vorzubeugen. Dem Wohlfahrtstaat geht es jedoch darum, weiter reichende Maßnahmen zur Steigerung des sozialen, materiellen und kulturellen Wohlergehens seiner Bürger zu ergreifen.
Damit dies erreicht werden kann, muss der Wohlfahrtsstaat jedoch seine Bürger individuell bevormunden, dadurch schränkt er Eigeninitiative und Verantwortung ein. Schon Ludwig Erhard fand nichts Unsozialer als den Wohlfahrtsstaat, der die menschliche Verantwortung erschlaffen und die individuelle Leistung absinken lässt.“ Diese bedenkliche Entwicklung von Bevormundung und Umsorgen bedeutet auch eine zunehmende Bedrohung der unternehmerischen Freiheiten – die durch die flächendeckende Einführung von Mindestlöhnen noch weiter eingeschränkt wurden. Die Entwicklung zur Einschränkung, auf der EU-Ebene Regulierung genannt, führt jedoch zu ökonomischen Fehlentwicklungen. Für das Handelsblatt Online Anlass genug, die EU als „Krake Europa“ zu bezeichnen. Vom Vorreiter für freie Märkte hat sich die Europäische Union immer mehr zur Befürworterin staatlicher Interventionen gewandelt. Keine Wunder, die Begehrlichkeiten der Mehrheitsmitglieder um Teilhabe am Wohlstand ohne entsprechende Anstrengungen, wie sie Deutschland beispielsweise seit 1945 unternommen hat, sind zu verlockend – Griechenland ist hierfür leider das tragische Beispiel. Durch die massiven und ungeplanten Ausgaben zur Stützung der Not leidenden Banken gerieten, welche Ironie, die Retter selbst in Gefahr. Wird im Kontext der europäischen Banken- und jetzt auch Staatsrettung immer auf die hoch verschuldeten PIIGS-Staaten verwiesen, wird schnell vergessen, dass auch die Gesamtverschuldung Deutschlands mit 81,6 Prozent des Bruttoinlandsproduktes weit jenseits der im Vertrag von Maastricht festgelegten 60 Prozentgrenze liegt. Zudem ist Deutschland das am höchsten verschuldete EU-Mitgliedsland. WELT Online berichtete am 22. November 2012, dass „die ausgewiesenen und die versteckten Schulden“, letztere sind primär die der Sozialkassen, mittlerweile bei „7,7 Billionen Euro liegt und dabei die Kredite und Bürgschaften für Griechenland und andere EURO-Länder noch gar nicht enthalten“ sind. Jeder Arbeitnehmer schiebt also einen Schuldenberg von mehr als 200.000 € vor sich her. Eines Tages, in nicht allzu ferner Zukunft, müssen die Schulden aber vor allem von den heute noch Jungen bezahlt werden. Wenn der Bürger, also Sie, nicht zahlen können, werden Sie enteignet. Wie geht das? Durch Zwangsanleihen, Zwangshypotheken, gesteuerte Inflation und Ähnliches.[3] Derweil werden weiterhin Risiken der privaten Anleger sozialisiert und Gewinne privatisiert.
Das Europa der politischen Eliten
Kurz vor der Einführung des EURO, Ende 1999, zitiert das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ den zukünftigen Chef der Eurogruppe Jean-Claude Junker mit den folgenden Worten: „Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, ob was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter. Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt."[4] Diese Äußerung Junkers ist symptomatisch für die elitäre Politik der Europäischen Union der letzten 10 Jahre. Viele Vorzeige-Europäer und Spitzenbeamte, unter ihnen auch viele EU-Kommissare, trauen den Bürgern Europas offenbar nicht mehr zu, selbst darüber entscheiden zu können, was gut für ihre europäische Gesellschaft und Kultur ist. So war es auch bei der Entscheidung über den EU-Verfassungsvertrag. 2005 fiel dieser bei Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden durch. 2008 lehnten die Iren in einem Referendum den daraufhin entwickelten Vertrag von Lissabon ab, der nicht nur das Wort Verfassung vermied, sondern über den der ehemalige Staatspräsident und Vater des EU-Verfassungsentwurfs Valéry Giscard d'Estaing sagte, dass er praktisch identisch sei mit dem Entwurf zum EU-Verfassungsvertrag. [5] Die politischen Eliten Europas wollten, nachdem das ersten Vertragsdesastergeschehen war, auf jeden Fall die Ratifizierung des Vertrags von Lissabon, gewissermaßen als Verfassungsvertragsersatz, durchpeitschen. Daher wurde ein Trick angewandt, den Valéry Giscard d'Estaing wie folgt beschreibt: „Die öffentliche Meinung wird, ohne es zu wissen, zur Annahme der Vorschläge geführt werden, die wir ihnen nicht direkt vorzulegen wagen. Alle früheren Vorschläge werden in dem neuen Text sein, doch sie werden versteckt und mehr oder weniger verkleidet sein." Überliefert wird dieses Zitat durch Bukowski, Wladimir in dessen Beitrag „Die EUdSSR-Dämmerung“ in Michael Müllers Buch „Die leise Diktatur. Das Schwinden der Freiheit“. Es drängt sich also der Eindruck auf, dass die „politischen Eliten“ dazu bestimmt sind, mit einem Prozess fortzufahren, in dem ihre eigenen Länder in einem neuen europäischen Superstaat zu Provinzen degradiert werden, wie es der EU-Kritiker Wladimir Bukowski ebenfalls im bereits zitierten Buch schreibt. Dieser Sicht entgegenstellt sich der Vorsitzende der Konrad-Adenauer-Stiftung, der ehemalige Präsident des Europaparlaments, Dr. Hans-Gert Pöttering (CDU). In einem Beitrag für die CV-Verbandszeitschrift ACADEMIA plädiert er für die Vision einer subsidiär organisierten Europäischen Union, die sich dem demokratischen Selbstbestimmungsprinzip bei der Schaffung einer politischen Union verpflichtet weiß „Nur so ist die Glaubwürdigkeit und Zustimmung bei den Bürgern zu erhalten und nur so können die Völker Europas den Mut zu einer weiteren Integration aufbringen." Doch wie viel Vertrauen kann die Bevölkerung Europas in ihre Repräsentanten noch setzen, wenn sie das Gefühl nicht loswird, dass diese im Gegensatz zu ihnen anderen Interessen folgen?
Erhalt des EURO um jeden Preis?
Es ist auffällig, dass die „politischen Eliten“ offenbar nicht bereit sind, Korrekturen ihrer Entscheidungen vorzunehmen. Der EURO als Sinnbild der europäischen Einigung, ja sogar als Krönung des Lebenswerkes so manches altvorderen Europolitikers soll um jeden Preis, und dafür ist offensichtlich kein Einsatz zu hoch, erhalten werden. Es werden Milliarden an europäischem Volksvermögen vernichtet, in dem Schulden mit noch mehr Schulden bekämpft werden. Der ehemalige Vize-Präsident von Goldmann Sachs International, Mitglied der von der Rockefeller-Stiftung gegründeten finanzwirtschaftlichen Lobbyorganisation „Group of thirty“ und ehemalige EZB-Notenbankchef Mario Draghi hat zudem entschieden, dass die EZB unbegrenzt Staatsanleihen kaufen könnte, wenn sich Krisenländer den Auflagen des ESM-Rettungsschirms unterwerfen. Dies steht im Gegensatz zu den Sicherungen, die das Bundesverfassungsgericht im Urteil zum ESM eingebaut hat: keine unbegrenzte Haftung für Deutschland und die Zustimmung des Bundestages vor jedem Milliardenkredit. Wenn die EZB aber Anleihen kauft, dann haftet Deutschland nach seinem EZB-Anteil mit 27 Prozent für die Ausfallrisiken. „Mit der EZB-Politik sowie den Target-Salden Deutschlands bei der EZB von mehr als 700 Milliarden Euro wird das Ausmaß der Rettungsfinanzierung verschleiert,“ sagte Stephan Werhahn, ehemaliger Spitzenkandidat der Freien Wähler für die Bundestagswahl in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.[6] Den hoffnungslos überschuldeten südeuropäischen Staaten werden im Gegenzug zu finanziellen Hilfen, zudem Sparprogramme auferlegt, die ihre angeschlagenen Wirtschaften gänzlich ruinieren werden. „Der Euro sprengt Europa, statt es zusammenzuführen“, hält Werhahn fest.
Die düstere Zukunft der EU
Doch gerade zusammenzuführen, statt zu spalten, das war die bittere Erfahrung der europäischen Politiker nach zwei brutalen und menschenverachtenden Weltkriegen. 67 Jahre vor der Errichtung des ständigen EURO Schutzmechanismus (ESM) hatten die Gründerväter der europäischen Einigung Konrad Adenauer, Robert Schumann und Alcide De Gasperi nur ein Ziel: die europäischen Völker miteinander zu versöhnen und kriegerische Auseinandersetzungen für immer zu verhindern. Schon 1922 hatte der aus Böhmen stammende und nicht unumstrittene Couldenhove-Kalergi, der Begründer der Paneuropa-Bewegung, die Grundidee eines friedlichen Europas entwickelt. Dessen Idee wurde schließlich in der Zusammenführung der einzelnen europäischen Nationalstaaten unter dem Dach der Europäischen Union übernommen – gewissermaßen die Errichtung eines neuen Heiligen Römischen Reiches der Neuzeit. Deutschland ist und war dabei zusammen mit Frankreich und Italien auch in der Zeit der deutschen Teilung stets der Motor der europäischen Einigung gewesen. Die ersten Schritte waren jedenfalls erfolgreich: Kohl- und Stahlunion, die sogenannte Montanunion, die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), und die Europäische Gemeinschaft (EG). Doch im Europa der Gegenwart scheiden sich die Geister, wenn es um die Frage der politischen Union geht, geschweige denn, wie es mit der wirtschaftlichen Union weitergeht. Die EU insgesamt ist durch die Finanzkrise des EURO geschwächt. Anstatt zu diskutieren, wie die Staatsfinanzkrise bewältigt werden kann, verliert man sich bereits darüber, den nächsten großen Schritt zu tun – die Entwicklung einer politischen Union.
EU: Keine Zukunft ohne zivilisatorisches Fundament
Damit die EU gesund werden kann, muss sie sich auf ihre Ursprünge und Grundprinzipien der Subsidiarität besinnen. Und in diesem Punkt liegt ihre Schwäche. Sie ist wie die Moderne insgesamt geschichtsvergessen. Sie erinnert sich an ihrer Wurzeln und ihren historischen Wissensschatz nicht, weil die zurzeit alles bestimmenden Utopisten und Utilitaristen darin eine Schwächung des Fortschritts sehen. Doch was sie heute versprechen, wird sich stets allenfalls erst in der Zukunft verwirklichen lassen, wenn überhaupt. Die Kausalität von den drei Hügeln, auf denen Europa aufgebaut ist und die der erste Bundespräsident Theodor Heuss, ein liberaler Protestant stets gerne zitierte, scheint vergessen: der Hügel Golgatha für das Christentum, das Kapitol für das römische Recht und die Akropolis für die griechische Philosophie. Der US-amerikanische Historiker Niall Ferguson, Professor für Neuere Geschichte an der Havard University, stellt in seinem Buch „Der Westen und der Rest der Welt“ die entscheidende Frage nach der Perspektive des Westens. Er beantwortet sie damit, dass die wirkliche Bedrohung gar nicht der Aufstieg Chinas und des Islams oder der Anstieg der CO₂-Emissionen, sondern der verlorene Glaube an die Zivilisation ist, die wir von unseren Vorfahren ererbt haben.[7] Freilich vermeidet Fergusson in seinen weiteren Ausführungen zu erklären, dass Moral und Ethik entscheidend für die Entwicklung einer gesunden Zivilisation ist. Der christliche Glaube gepaart mit der abendländischen Philosophie hat jedoch, um im Duktus Fergussons' zu bleiben, ursprünglich erst die Dominanz des Westens gegenüber dem Rest der Welt möglich gemacht. Sie schwindet, je weniger der Westen sich auf seine zivilisatorischen Wurzeln – fußend auf christlichem Glauben, europäischer Philosophie und römischen Recht besinnt.
Das demokratische Prinzip als tragfähige Säule der EU in Gefahr?
Bei der Frage nach der Zukunft Europas geht es um mehr als Posten oder Vertragsratifizierungen. Entscheidungen auf europäischer Ebene haben konkrete Auswirkungen für jeden Einzelnen. Konrad Adenauer sagte noch als Kanzler: „Die Einheit Europas war wie ein Traum weniger. Sie wurde Hoffnung für viele. Sie ist heute eine Notwendigkeit für alle."[8] Was sich jedoch unter dem Vorzeichen des Kalten Krieges wie die Rettung anhört, gewinnt mit Blick öffne Entwicklungen der europäischen Politik in den vergangenen Jahren den Charakter einer Drohung. Die Europäische Union befindet sich in einem Konversionsprozess. Es steht ein „Verfassungswechsel“ von Nationalstaaten zu einem supranationalen Staatengebilde an. Welche „Verfassungsform“ soll die politisch geeinte Europäische Union haben? Die derzeitige Interpretation von Demokratie durch die politisch Handelnden weist darauf hin, dass diese darunter offensichtlich eher eine Oligarchie mit „demokratischen Verfassungselementen“ verstehen. Folgt man dem vom griechischen Philosophen Polybios im 2. Jahrhundert entwickelten Verfassungskreislauf, so ist die Tyrannis die Verfallsform der Demokratie. Bewegen wir uns geradewegs zu? Das politische Handeln und die damit verbundene Agitation von EU-Kommission, dem EU-Rat, dem Vorsitzenden der EURO-Gruppe, Jean-Claude Junker, dem EZB-Präsident Mario Draghi und allen voran der ehemaligen deutschen Kanzlerin Angela Merkel und ihrem Ehemaligen Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble lassen wahrlich daran zweifeln, ob ihnen der Willen der souveräne – nämlich der europäischen Völker wirklich wichtig ist.
Politische Entscheidungen werden von vorneherein als „alternativlos" bezeichnet, um somit jegliche Diskussion zu unterbinden. Dieses Verhalten ist jedoch einmal mehr geeignet, die Demokratie als „beste unter den schlechtesten Staatsformen", wie es der ehemalige Premierminister von Großbritannien Winston Churchill einmal formulierte, weiter zu schwächen.
Demokratie und Willensbildung
Die Demokratie basiert auf dem Dogma der Volkssouveränität, das stets die Gefahr in sich trägt, sich in eine Tyrannei der Mehrheit zu entwickeln, die alle Entscheidungen an sich zieht. Die Beteiligung der Bürger, die Volkssouveränität, garantiert nicht automatisch den dauerhaften Bestand der Freiheit für alle Bürger. Das bedeutet, dass sich die Bürger mehr denn je um die Aufrechterhaltung der „checks and balance", bemühen müssten. In der Theorie ist dies gegeben – in der Praxis eher nicht, da die Menschen sich systemisch bedingt um das Notwendigste selbst kümmern müssen. Fehlentwicklungen im politischen System entgegenzusteuern, ist z. B. durch plebiszitäre Elemente auf Bundesebene nicht vorgesehen. So sind die BRD-Bürger zur Untätigkeit verdammt, bis sie nach vier Jahren „neu entscheiden dürfen“, welcher Partei sie ihre Stimme geben wollen. Auf europäischer Ebene dürfen die Bürger alle fünf Jahre das EU-Parlament wählen. Dessen Einfluss wurde zwar seit 1979 hauptsächlich durch den Vertrag von Maastricht 1992 und den Vertrag von Lissabon 2007 deutlich gesteigert, jedoch hat es im Vergleich zu nationalen Parlamenten weniger Mitbestimmungs- und Entscheidungsmöglichkeiten. Neben dieser legislativ recht schwachen Bürgerkammer besteht noch eine legislativ sehr starke, sogenannte Staatenkammer: Der Rat der Europäischen Union, auch EU-Rat genannt, wird durch die Regierungschefs der Mitgliedsstaaten gebildet. Hätte man es tatsächlich gewollt, dass das EU-Parlament die EU-Kommission in die Schranken weisen und somit kontrollieren könnte, wäre dies entsprechend eingerichtet worden.
Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation als Beispiel für ein „geeintes Europa“?
Doch die Frage der „verfassungsrechtlichen Gestaltung“ Europas jenseits der Frage der nationalen „demokratischen Ordnungen“ sollte nicht ausschließlich durch einen Verhandlungsprozess der Eliten entworfen werden. Das Desinteresse der europäischen Bevölkerung an EU-Themen wird seit geraumer Zeit durch zwei Faktoren verstärkt. Die nach wie vor pseudodemokratische Ordnung der EU, in der de facto die Exekutive (EU-Ministerrat) legislative Entscheidungen trifft, die daraus resultierende Unverständlichkeit von politischen Entscheidungen und die technokratische, unverständliche Sprache der Brüsseler Administration. Es braucht viel mehr eine Diskussion der besten gesellschaftlichen, akademischen und wirtschaftlichen Köpfe, deren Wissen im Rahmen einer verfassungsgebenden EU-Versammlung enden könnte. Analog zum Staatenverbund des 1805 untergegangenen Sacrum Romanum Imperium, besser als das Heilige Römisches Reich Deutscher Nation bekannt, könnte eine stärker auf dem Prinzip der Subsidiarität aufbauende Verfassung auch eine breitere Zustimmung der Bevölkerung finden. Wäre es tatsächlich gewollt gewesen, eine auf demokratischen Prinzipien, vorrangig im Sinne der Partizipation begründete europäische Ordnung zu erschaffen, wäre diese Chance final vertan. Das englische Magazin „The Economist" analysiert im Vergleich der EU mit dem Heiligen Römischen Reich jedoch sehr genau, dass die Risiken eines Staatenverbundes gestern wie heute ähnlich sind: Sobald Mitgliedsstaaten ihre eigenen Interessen über die des Staatenverbundes stellen, ist dieser mittel- bis langfristig dem Untergang geweiht. War es im Heiligen Römischen Reich die aufstrebenden und nach Hegemonie strebenden Mächte Preußen und Österreich, die auch gegeneinander Krieg führten, so waren es in der EU, allen voran Deutschland und Frankreich, die durch den Bruch gültiger Verträge, u. a. des 1997 unterzeichneten Stabilitäts- und Wachstumspakts, letztlich für die EURO-Krise und infolgedessen für den Niedergang der EU mitverantwortlich zeichnen. Eine Ahndung des Vergehens fand aufgrund der deutsch-französischen EU-Vormacht bekanntermaßen nicht statt.[9]
[1] Anikina, Nina/ Alexis de Tocqueville - Die Gefährdung der Freiheit in der Demokratie. GRIN-Verlag 2005, S. 3
[2] Thomas, Hans: Was ist „Freiheit“? In: Michael Müller (Hrsg.), Die leise Diktatur. Das Schwinden der Freiheit. MM Verlag, Aachen,3. Auflage 2011S. 59 ff[3] vgl. Bachmann, Hartmut: Die Allmacht der Parteien. In: Müller, Michael (Hrsg.): Die leise Diktatur. Das Schwinden der Freiheit. MM Verlag, Aachen,3. Auflage 2011, S. 168f
[4] Liminski, Jürgen: Man will an das deutsche Geld. Die Tagespost, 14. Juli 2012, Nr. 84
[5] Bukowski, Wladimir: Die EUdSSR-Dämmerung. In: Michael Müller (Hrsg.), a.a.O., S. 28
[6] Der Euro sprengt Europa, statt es zusammenzuführen. Interview von Philip Plickert mit Stephan Werhahn in der FAZ vom 24.11.12, Nr. 275, S. 14
[7] Fergusson, Niall: Der Westen und der Rest der Welt. Die Geschichte vom Wettstreit der Kulturen. Berlin 2011, S. 476
[8] Kastler, Martin: Die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten. In: Müller, Michael (Hrsg.): Die leise Diktatur. Das Schwinden der Freiheit. MM Verlag, 3. Auflage 2011
[9] The Economist, 22. Dezember 2012-4. Januar 2013, S.31 ff
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