Von der Leyens neue „Prawda“ ist nicht Orwells 1984 – und gerade deshalb so gefährlich
Die Debatte über moderne Formen der Zensur wird häufig als amerikanisches Phänomen verhandelt. Ausgangspunkt vieler Analysen sind die Veröffentlichungen rund um die sogenannten Twitter Files, in denen der amerikanische Journalist Michael Shellenberger dokumentierte, wie US-Behörden informell auf Plattformen einwirkten, um Reichweiten zu begrenzen, Inhalte herabzustufen oder Konten zu sperren. Shellenberger gilt als ausgewiesener Fürsprecher der Meinungsfreiheit und dokumentiert dies regelmäßig, u. a. auf seinem Blog „Public“. Shellenberger betonte dabei wiederholt, so auch vor dem Sonderausschuss des US-Kongresses zum „Zensur-Industrie-Komplex“, dass Zensur sich heute selten als offenes Verbot äußere, sondern als „De-Amplifikation, Demonetarisierung, Account-Sperren und algorithmische Unterdrückung“, wodurch Meinungsfreiheit faktisch eingeschränkt werde, ohne formell aufgehoben zu sein.
Diese Analyse verweist jedoch über den US-Kontext hinaus. Auch in Deutschland befassen sich seit Jahren Juristen und Journalisten mit der Frage, ob Meinungsfreiheit zunehmend über private Akteure und regulatorischen Druck begrenzt wird. Der Medienrechtsanwalt Joachim Nikolaus Steinhöfel vertritt in öffentlichen Beiträgen und Interviews wiederholt die Auffassung, dass die Meinungsfreiheit im digitalen Raum nicht allein durch Plattformbetreiber oder staatliche Erwartungen beschnitten werden darf. In einem Interview mit der Tageszeitung „Die Welt“ betonte er, dass soziale Netzwerke und ihre Löschpraxis die freie Rede bedrohten und nicht nur durch die Tech-Konzerne selbst, sondern zunehmend auch durch politische Einflussnahme eingeschränkt würden, etwa über Begriffe wie „Hat Speech“. Steinhöfel kritisiert in einem weiteren Artikel, der 2025 in der Tageszeitung „Die Welt“ erschien, dass der Staat seine Macht über digitale Diskurse ausdehnt. Er bezeichnet staatliche Eingriffe, die über die ausdrücklichen Grenzen strafrechtlich relevanter Inhalte hinausgehen, für die freiheitlich-demokratische Grundordnung als problematisch. Zudem lässt sich aus seiner Buchveröffentlichung Die digitale Bevormundung ableiten, dass er die Praxis von Social-Media-Plattformen und staatlichen Regulierungsansätzen als Form der Machtverlagerung über die Meinungsbildung wahrnimmt, welche die Grundrechte faktisch berührt. Steinhöfel warnt, dass der Staat Eingriffe in die Meinungsfreiheit zunehmend auf Plattformbetreiber verlagere und sich somit selbst der unmittelbaren verfassungsrechtlichen Kontrolle entziehe.
Der Ökonom und Publizist Norbert Häring beschreibt auf seinem Blog „Geld und mehr“ wiederholt, wie institutionelle und digitale Infrastrukturen sowie ihre wirtschaftlichen Zwänge Einfluss auf öffentliche Debatten und Sichtbarkeit nehmen und dadurch faktisch bestimmte Stimmen benachteiligen können. Häring warnt zudem, Plattformen und Finanzdienstleister würden damit faktisch zu politischen Akteuren, obwohl sie keiner demokratischen Kontrolle unterlägen. Der Journalist Boris Reitschuster dokumentiert ebenfalls auf seinem Blog seit Jahren Fälle von Beitragslöschungen und Reichweitenbegrenzungen auf Social-Media-Plattformen, die seiner Darstellung zufolge weder strafbar noch sachlich falsch gewesen seien. Reitschuster beschreibt diese Praxis als Ausdruck eines zunehmend engen Meinungskorridors, in dem abweichende Positionen weniger argumentativ widerlegt als vielmehr moralisch delegitimiert oder technisch unsichtbar gemacht würden.
Eine grundrechtsdogmatische Einordnung liefern ehemalige Verfassungsrichter. Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, machte in einem öffentlichen Gespräch an der „Tutzinger Akademie für politische Bildung“ laut „Sonntagsblatt“ deutlich, dass Meinungsfreiheit in einer Demokratie einen hohen verfassungsrechtlichen Stellenwert hat und der Staat nicht als „Meinungsrichter“ auftreten darf. Er betonte, der Staat müsse Recht durchsetzen, nicht Moralvorstellungen, und in einer pluralistischen Gesellschaft auch kontroverse Positionen aushalten müsse. Auch der ehemalige Richter des Bundesverfassungsgerichts Udo Di Fabio hat wiederholt darauf hingewiesen, dass Freiheit im Verfassungsstaat gerade dort bewahrt werden müsse, wo Meinungen gesellschaftlich oder politisch umstritten sind. Grundrechte verlören ihren Sinn, wenn sie faktisch nur noch für akzeptierte oder mehrheitsfähige Positionen gälten.
Vor diesem Hintergrund ist Shellenbergers Analyse weniger als amerikanische Sonderdebatte zu lesen, sondern als Beschreibung moderner Machttechniken im digitalen Raum. Sie zeigt, wie Meinungsfreiheit nicht durch offene Verbote, sondern durch administrative, technische und ökonomische Steuerung faktisch begrenzt wird. Gerade deshalb ist sein Befund für den europäischen Kontext relevant – nicht, weil er eins zu eins übertragbar wäre, sondern weil er sichtbar macht, welche systemischen Effekte entstehen, wenn Meinungsfreiheit vom Abwehrrecht des Bürgers zu einem verwalteten Risiko erklärt wird.
Der Digital Services Act – Meinungsregulierung durch eine regelbasierte Ordnung?
Der Digital Services Act (DSA) wird von der Europäischen Union ausdrücklich nicht als Zensurgesetz verstanden. Er verbietet keine Meinungen, formuliert keine Wahrheitskataloge und enthält kein einziges Wort darüber, welche politischen Ansichten erlaubt oder verboten seien. Genau deshalb gilt er in Brüssel als Musterbeispiel einer modernen, „regelbasierten Ordnung“. Der Anspruch ist hoch – und die Wirkung tiefgreifend.
Der DSA wird seit Februar 2024 vollumfänglich angewendet. Sein offizielles Ziel ist es, einen „sicheren digitalen Raum“ zu schaffen und systemische Risiken für die Demokratie zu minimieren. Die Europäische Kommission formuliert das unmissverständlich: Plattformen müssten Verantwortung für die gesellschaftlichen Auswirkungen ihrer Dienste übernehmen, insbesondere im Hinblick auf Desinformation, Hassrede und Manipulation.
Auffällig ist bereits hier die Wortwahl. Der DSA knüpft nicht an konkrete Straftatbestände an, sondern an Risiken. Risiken sind jedoch nicht gesetzlich normiert. Nicht das rechtswidrige Verhalten steht im Zentrum, sondern die Möglichkeit gesellschaftlicher Wirkung. Diese Verschiebung ist entscheidend.
Im Gesetz selbst findet sich keine inhaltliche Definition dessen, was zu löschen ist. Stattdessen arbeitet der DSA mit dem Begriff des „illegal content“. Was darunterfällt, wird ausdrücklich dem bestehenden nationalen und europäischen Recht überlassen (Art. 3 DSA, Volltext der Verordnung (EU) 2022/2065). Auf dem Papier bleibt damit alles beim Alten. In der Praxis jedoch entsteht ein neuer Entscheidungsraum.
Plattformen sind verpflichtet, gemeldete Inhalte „zügig“ zu prüfen und gegebenenfalls zu entfernen. Was zügig bedeutet, wird nicht präzise definiert. Wohl aber sind empfindliche Sanktionen vorgesehen, wenn Plattformen systematisch zu langsam reagieren oder Risiken nicht ausreichend adressieren. Bei großen Online-Plattformen drohen Bußgelder von bis zu sechs Prozent des weltweiten Jahresumsatzes (Art. 52 DSA, ebenda).
Diese Konstruktion verändert das Verhalten rational handelnder Unternehmen. Wenn unklar ist, ob ein Inhalt rechtswidrig ist, aber klar ist, dass Verzögerungen regulatorische Risiken bergen, verschiebt sich der Entscheidungsmaßstab. Im Zweifel wird gelöscht. Nicht aus politischer Überzeugung, sondern aus unternehmerischer Vorsicht.
Besonders relevant ist dabei das sogenannte Notice-and-Action-System, das der DSA verbindlich festschreibt. Jeder gemeldete Inhalt muss geprüft werden, ohne dass ein richterlicher Beschluss erforderlich wäre. Die betroffene Person erhält zwar theoretisch Rechtsschutzmöglichkeiten, doch diese wirken regelmäßig erst nach der Entfernung des Inhalts. Der Eingriff erfolgt sofort, die Prüfung im Nachhinein (Art. 16 DSA, ebenda). Ein besonders wirkmächtiges Instrument dieser Verfahrenslogik sind die sogenannten „Trusted Flagger“, deren privilegierte Stellung im DSA die Eingriffsdynamik weiter verschärft. Der DSA sieht vor, dass bestimmte Organisationen – häufig NGOs – als besonders vertrauenswürdige Hinweisgeber anerkannt werden können. Ihre Meldungen müssen von Plattformen priorisiert behandelt werden (Art. 22 DSA, ebenda). Diese Organisationen entscheiden formal nicht über Recht oder Unrecht. Faktisch entscheiden sie jedoch über Aufmerksamkeit, Geschwindigkeit und Wahrscheinlichkeit der Entfernung.
Die Europäische Kommission betont, dass „Trusted Flagger“ keine Zensur ausüben, sondern lediglich Hinweise geben. Das ist juristisch korrekt. Politisch und praktisch jedoch verlagert sich Macht: Wer priorisiert meldet, beeinflusst Verfahren. Verfahren aber entscheiden im digitalen Raum über Sichtbarkeit, Reichweite und wirtschaftliche Existenz. Diese Logik wurde von Thierry Breton, dem damaligen Binnenmarktkommissar und zentralen Architekten des DSA, offen vertreten. Breton erklärte mehrfach, Plattformen müssten „systemische Risiken“ für Demokratie und gesellschaftlichen Zusammenhalt aktiv reduzieren, auch wenn einzelne Inhalte für sich genommen nicht eindeutig illegal sind. Damit wird ein Paradigmenwechsel deutlich. Der Maßstab ist nicht mehr allein die Rechtmäßigkeit eines Inhalts, sondern seine gefühlte, wahrgenommene Systemverträglichkeit. Ob etwas gesagt werden darf, entscheidet nicht mehr ausschließlich das Gesetz, sondern das Zusammenspiel aus nichtstaatlichen Akteuren, z. B. den Meldestellen (Trusted Flagger), deren nicht an Gesetze gebundene Risikoabschätzung und regulatorischem Druck durch den DAS per se.
Gut gemeint ist nicht immer gut gemacht
Verteidiger des DSA argumentieren, es gebe keinen staatlichen Zensor. Das ist formal richtig. Der Staat ordnet keine Löschung einzelner Meinungen an. Doch er schafft einen Rahmen, in dem Plattformen systematisch zu vorsorglichem Handeln gedrängt werden. Zensur wird nicht angeordnet, sondern outgesourct. Juristische Kritik an diesem Mechanismus kommt nicht nur aus politischen Randbereichen. In einer Analyse für das Verfassungsblog wird darauf hingewiesen, dass der DSA zwar die Meinungsfreiheit nicht direkt beschneide, aber faktisch eine „strukturierte Anreizlage zur Over-Compliance“ schaffe, die den öffentlichen Diskurs verengen könne.
Der DSA markiert damit keinen offenen Bruch mit der Meinungsfreiheit. Er verändert ihren Modus Operandi, ihre Nutzung: Was ist erlaubt, was ist verboten und was ist erlaubt? Freiheit wird somit offiziell nicht eingeschränkt, sondern durch privat- und/oder zivilrechtliche Akteure reguliert. Dies wird Auswirkungen auf die Ausübung der Meinungsfreiheit haben. Menschen werden es sich gut überlegen, zu welchen Themen und wie sie dazu ihre Meinung in Social Media zum Ausdruck bringen. Die Selbstverständlichkeit, seine Meinung zu sagen, solange kein Gesetz verletzt wird, ist im Begriff, auf absehbare Zeit nachhaltig verändert zu werden.
Dazu tragen aktuell nichtstaatliche Akteure bei, etwa NGOs im "Kampf gegen rechts" und die „Trusted Flagger“. Diese Netzwerke staatlich geförderter und mit Steuergeld finanzierten Organisationen handeln im Namen der Zivilgesellschaft – und entscheiden faktisch als Vorfeld regulatorischer Macht, was veröffentlicht werden darf und was nicht. Das ist ein klarer Bruch mit der deutschen und europäischen Rechtstradition und ein Warnsignal an alle, die die Meinungsfreiheit gemäß Artikel 5 Grundgesetz auch weiterhin unangetastet sehen wollen.
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Von : Stephan