Markus Lanz: Eine Talkshow zum Schulnotstand wird zur Offenbarung
Zwischen Programmen und Praxis – warum Deutschlands Bildungssystem an der Realität scheitert
Am 26. Juni traf die Bundesbildungsministerin Karin Prien (CDU) bei Markus Lanz auf die Grundschullehrerin der Wiesbadener Grundschullehrerin Katja Giesler – es war ein Zusammenprall der Kulturen, nein der Realitäten. Was sich dort abzeichnete, war mehr als eine Diskussion – es war ein symbolischer Moment für die Krise des deutschen Bildungssystems. Die Diskutantinnen, gelegentlich unterbrochen von Kommentaren und erstaunten Fragen des Moderators Markus Lanz, offenbarten einen Riss von gewaltiger Tiefe. Die Lehrerin beschreibt Klassen voller Vertretungslehrer, Kinder ohne Deutschkenntnisse, Unterricht als Betreuung. Prien reagiert mit Verweisen auf Programme, Länderkompetenz – aber auf die Einladung, eine Schulstunde live zu erleben, folgt nur das bekannte Lächeln des Ausweichens.
Die Bundesbildungsministerin Prien eröffnete ihren Diskussionsbeitrag laut der Boulevardzeitung „Express“ damit, dass man „große Baustellen“ habe, insbesondere weil Schüler zunehmend unterschiedlich seien, Migration und verändertes Erziehungsverhalten eine wesentliche Rolle spielten. Doch als Giesler schilderte, dass sie ständig Vertretungslehrer organisieren muss – von Studienanfängern bis Quereinsteigern – und Prien entgegnete: „Aber die dürfen doch gar nicht unterrichten“, wurde deutlich: Die Ministerin steckt in der Regelbürokratie fest, wie die „Berliner Morgenpost“ treffend bemerkte.
Giesler: „Wir sind komplett überlastet.“ Sie erzählte vom Alltag, in dem Unterricht oft zum reinen Betreuen verwässert wird – eine augenscheinlich unvereinbare Realität mit den programmierten Formelsätzen aus Statistiken und Klammermodellen. Prien konterte mit guten Absichten, verweist auf Sprachförderung und Programme – doch es war spürbar, dass das Problem tiefer liegt.
Politische Absichten reichen nicht aus
Der symbolische Moment: Giesler lädt Prien ein, live in eine Brennpunktschule zu gehen – doch die Ministerin lehnt ab. Ein höfliches Lächeln, aber kein ernsthaftes Engagement. Es bleibt das Bild einer Politik, die sich in theoretischen Modellen und Förderprogrammen hinter Akten verschanzt – und einer Lehrerin, die als Praktikerin, stellvertretend für viele Lehrkräfte auf verlorenem Posten steht und die täglich jeden einzelnen Tag kämpfen muss.
Dieser Moment offenbart ein zentrales Problem: der Versuch, strukturelle Schulprobleme mit Rhetorik zu lösen. Man spricht von „Baustellen“, „vielfältigeren Schülern“, und zieht Programme und Förderinitiativen ins Feld – Prien leitet aus den „suboptimalen“ Verhältnissen an Grundschulen laut der Tageszeitung „Die Welt“ die Forderung ab, jedes Kind müsse vor der Einschulung Deutsch beherrschen. Forderungen sind wohlfeil, zumal die konkrete Bildungspolitik der Hoheit den einzelnen Bundesländern unterliegt.
Internationaler Vergleich: Deutschland hinkt hinterher
Es lohnt sich ein nüchterner Blick auf das, was in Deutschland tatsächlich für Bildung ausgegeben wird – und was nicht. Denn hinter all den Debatten über Schulversagen, Lehrermangel, schlechten Leistungen und miserablen Noten, mangelhaften Deutschkenntnissen und maroden Schulgebäuden steht nicht nur die Frage, ob das sauer verdiente Geld des Steuerzahlers zielgerichtet, also leistungs- und lösungsorientiert investiert oder ob es einfach nur ausgegeben wird?
Laut OECD-Auswertung aus dem Jahr 2024, gibt Deutschland 4,6 % seines Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Bildung aus (umfasst Primar- bis Hochschulbereich). Der Durchschnitt der OECD-Staaten liegt bei 4,9 % – Deutschland bleibt also unter dem internationalen Schnitt.
Andere Länder priorisieren Bildung wesentlich höher und geben erheblich mehr Geld dafür aus:
- Norwegen: 6,6 %
- Israel: 6,2 %
- Australien: 6,1 %
- USA & Vereinigtes Königreich: ca. 6 %
Der Bund investiert mehr in den Klimaschutz als in Bildung
Der Bundeshaushalt 2025 umfasst laut Angaben des Bundesfinanzministeriums ein Gesamtvolumen von rund 480 Mrd. Euro. Laut dem Online-Portal „Forschung und Lehre“ erhält das Bildungsministerium davon 22,3 Milliarden – ein minimaler Budgetzuwachs, gepaart mit hohen Sparauflagen. 25, 7 Milliarden gehen in den Klima- und Transformationsfonds, der „gezielt“ Projekte im Klimaschutz, der digitalen Entwicklung und der Wirtschaftswende unterstützt, so ist es auf der Website des Bundesfinanzministeriums nachzulesen. Der Bundesverteidigungshaushalt erhält laut Website des Bundesverteidigungsministeriums mit Hinblick auf die geopolitisch angespannte Lage 86 Mrd. Euro. Christian Lindner, damals noch nicht Ex-, sondern im Amt befindlicher Bundesfinanzminister, sagte bereits im Mai 2024 gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters in aller Deutlichkeit: „Verteidigung, soziale Sicherung und Zinszahlungen limitieren Investitionen in anderen Bereichen – auch in Bildung.“
Wenn es um Bildungsausgaben geht, führt die Bundesregierung regelmäßig Förderprogramme, Strategiepläne und Summen in Milliardenhöhe an. Doch was auf den ersten Blick nach einer engagierten Bildungsrepublik aussieht, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als Nebelwand.
Laut dem Entwurf des Bundeshaushalts 2025 erhält das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), wie zuvor erwähnt, 22,3 Milliarden Euro. Das klingt stattlich – doch ein Großteil dieser Summe fließt in Forschungsförderung, Hochschulen und Wissenschaftsinstitutionen. Für den Schulbereich, der in die Zuständigkeit der Länder fällt, bleiben nur wenige Bundesmittel – etwa über Kooperationsprogramme wie das Startchancen-Programm oder den Digitalpakt Schule. Doch selbst hier kommt das Geld oft nicht dort an, wo es gebraucht wird: in der Grundschule, in den Brennpunktschulen, in der Ausstattung der Klassenzimmer.
Das bestätigt auch der aktuelle Bildungsfinanzbericht der Bundesregierung: „Trotz gestiegener Bildungsausgaben bleibt die personelle Ausstattung, insbesondere im Primarbereich, lückenhaft.“
Der Großteil der Bildungsausgaben wird laut einem Bericht der Europäischen Union (EU) von den Ländern getragen – 2024 waren es 130,9 Milliarden Euro, hinzu kommen 48,9 Milliarden Euro der Kommunen. Der Bund trägt lediglich rund 11,8 Milliarden Euro, also nicht einmal 7 % der Gesamtsumme aller öffentlichen Bildungsausgaben. Das ist die tatsächliche Investition in die institutionelle Bildung im engeren Sinne – also hauptsächlich Schulen, Berufsschulen, Kindergärten und Hochschulen. Die Ausgaben für Forschung und Technologieförderung sind darin nicht enthalten. Es handelt sich also um Bildungsausgaben, die direkt in Bildungsinstitutionen fließen: Schulgelder, Lehrerbesoldung, Infrastruktur, Digitalisierung, Schülerförderung etc.
Was folgt daraus? Das Bundesministerium für Bildung gleicht einem Aktenverwalter mit Machtambitionen, aber ohne Mittel. Es darf fordern, appellieren, moderieren – aber kann keine echte Reform durchsetzen. Programme bleiben freiwillig, Förderungen befristet. Und wer keine Kapazitäten hat, Fördermittel zu beantragen – wie viele Schulen im sozialen Brennpunkt – geht leer aus. Festzuhalten ist, „Bund, Länder und Kommunen müssen gemeinsam Verantwortung übernehmen – derzeit scheitert das System an seiner eigenen Struktur“, schrieb das Deutsche Schulbarometer 2023.
Doch es ist nicht nur die institutionelle Struktur, die scheitert – es sind auch gesellschaftliche Realitäten, die über Jahre ignoriert wurden. Denn während Ministerien in Zuständigkeitsfragen verharren und Kommunen um jeden Euro ringen, brennt es längst im Klassenzimmer. Und zwar nicht nur wegen kaputter Fenster oder fehlender Lehrer, sondern weil ein Grundpfeiler gelungener Bildung konsequent vernachlässigt, wurde: gelingende Integration durch Verantwortung auf beiden Seiten.
Hausgemachte Probleme: Kein Förderanspruch ohne Engagement
Wenn in Talkshows und politischen Reden über Bildung gesprochen wird, fällt regelmäßig ein Begriff: Integration. Doch die Realität in vielen Schulen zeigt, dass dieser Begriff längst zur leeren Worthülse verkommen ist – weil er mitunter nur in eine Richtung gedacht wird. Es geht nicht darum, Menschen mit Migrationshintergrund zu stigmatisieren. Aber es muss erlaubt sein, ein konkretes Problem klar zu benennen: Integration kann nur gelingen, wenn sie beidseitig erfolgt – und das bedeutet, dass Eltern in der Verantwortung stehen, sich aktiv um die Bildung ihrer Kinder zu kümmern.
Zahlreiche Lehrerinnen und Lehrer berichten aus dem Alltag: Eltern erscheinen nicht zu Elterngesprächen, bringen ihre Kinder regelmäßig zu spät oder gar nicht in die Schule, verstehen die Schulregeln nicht – oder wollen sie nicht verstehen. Hausaufgaben bleiben unbearbeitet, Unterstützung zu Hause: Fehlanzeige. Dabei geht es nicht um fehlende Ressourcen, sondern oft um ein Verständnis, und Engagement. Ein aktueller Bericht der BILD-Zeitung zeichnet ein beunruhigendes Bild: Lehrer und Sozialarbeiter berichten, dass bereits Grundschüler Messer mitbringen, während Eltern sich weder für den Unterricht noch für das Verhalten ihrer Kinder interessieren. Die Erziehungsarbeit bleibt an den Schulen hängen – mit katastrophalen Folgen.
Pauschalisierung hilft nicht weiter. Es gibt viele engagierte Eltern mit Migrationshintergrund, die sich vorbildlich um ihre Kinder kümmern. Doch der strukturelle Rückstand entsteht nicht allein durch äußere Umstände, sondern auch durch mangelnden Integrationswillen in Teilen der Migrantengemeinschaften. Hier muss eine unbequeme Wahrheit ausgesprochen werden: In einem Gastland zu leben, heißt auch, sich anzupassen.
Das bedeutet nicht, die eigene kulturelle Identität aufzugeben. Aber es bedeutet, die Gepflogenheiten, Regeln und Gesetze des Landes zu achten – und Bildung gehört in Deutschland zu den höchsten Gütern. Wer dauerhaft in diesem Land lebt, profitiert von sozialer Sicherheit, medizinischer Versorgung, öffentlicher Infrastruktur – und ist deshalb auch in der Pflicht, seinen Teil beizutragen.
Eigenverantwortung ist keine Option, sie ist Voraussetzung.
Wer nur fordert, aber nichts dafür tut, dass das eigene Kind dem Unterricht folgen kann – sei es durch Sprachförderung, regelmäßige Teilnahme oder schlicht durch Interesse – trägt Mitverantwortung für ein System, das an seine Grenzen stößt.
Der Erziehungswissenschaftler Aladin El-Mafaalani weist in einem Interview mit der Bundeszentrale für politische Bildung zu Recht darauf hin, dass Schulen überfordert sind, wenn Erziehung und Integration vollständig in ihren Zuständigkeitsbereich fallen. Integration müsse, so El-Mafaalani, „nicht nur durch Angebote, sondern auch durch klare Erwartungshaltungen“ gefördert werden.
Integration ist keine Bringschuld des Staates allein. Sie ist ein gesellschaftlicher Vertrag, bei dem beide Seiten ihren Teil leisten müssen. Und wer in Deutschland lebt, profitiert nicht nur von Rechten, sondern muss auch Pflichten erfüllen – auch und gerade im Bildungsbereich.
So berechtigt die Kritik an gescheiterter Integration im Bildungsalltag ist –es gibt auch positive Beispiele, die zeigen, dass Integration gelingen kann, wenn Wille, Strukturen und gegenseitiger Respekt zusammenkommen.
In vielen Schulen engagieren sich Lehrkräfte, Sozialarbeiter und ehrenamtliche Initiativen mit großem Einsatz, um Sprachbarrieren zu überwinden, kulturelle Missverständnisse zu moderieren und Eltern gezielt einzubinden. Projekte wie „Schule macht stark“, das vom BMBF und den Ländern gefördert wird, unterstützen gezielt 200 Schulen in besonders benachteiligten Lagen. Auch Programme wie „Dialog macht Schule“ setzen auf langfristige Bildungsarbeit mit Jugendlichen aus Einwandererfamilien, um Demokratieverständnis und Teilhabe zu fördern.
Diese Beispiele zeigen: Integration ist möglich – wenn sie ernst genommen wird. Das bedeutet: Die Aufnahmegesellschaft muss offene Strukturen schaffen. Aber es bedeutet auch: Eltern müssen bereit sein, Verantwortung zu übernehmen. Wer bleiben will, muss auch ankommen wollen. Integration ist keine Einbahnstraße – aber sie ist auch keine Sackgasse, wenn beide Seiten in Bewegung bleiben.
Was passieren muss – sieben Vorschläge für eine Bildungswende
Das Schulsystem, das zudem in der Hoheit der Bundesländer liegt, kann die Ursachen der Fehlentwicklung nur bedingt beheben. Das Bundesministerium für Familie und Bildung kann zwar seinen Teil dazu beitragen. Doch sowohl die zuständigen Bildungsministerien der Länder als auch das Bundesministerium haben keine Möglichkeit, die strukturelle Bevölkerungsentwicklung zu beeinflussen. Dazu benötigt man auf der Ebene der Bundesregierung den Willen, die Herausforderungen von zu viel Zuwanderung zu erkennen und zu adressieren. Der Lehrer- und Fachkräftemangel hingegen kann kurzfristig kaum gelöst werden. Der Bildungsnotstand ist erkannt. Nun muss dies Konsequenzen haben. Dafür gilt es an die Substanz zu gehen. Was braucht es für einen echten Neustart?
- Kooperationsverbot abschaffen – Bundeskompetenz stärken
Bildung darf kein Flickenteppich bleiben. Der Bund muss dauerhaft und strukturell mitverantwortlich sein dürfen. Das Kooperationsverbot sollte aus dem Grundgesetz gestrichen werden. Alternativ gilt es, das Bundesbildungsministerium aufzulösen und den Ländern die Problemlösung zu übertragen. - Brennpunktschulen gezielt fördern – Gießkanne abschaffen
Mehr Lehrer, kleinere Klassen, multiprofessionelle Teams – genau dort, wo es am meisten gebraucht wird. Fördergelder müssen dauerhaft und zweckgebunden fließen. - Klassenzusammensetzungen reformieren – keine ethnisch isolierten Klassen mehr. Schulen dürfen keine Parallelgesellschaften abbilden. Es braucht verbindliche Quoten zur Durchmischung der Schülerschaft, um Integration zu ermöglichen – nicht zu verhindern.
- Verantwortung der Eltern konsequent einfordern
Bildung ist auch Familiensache. Wer dauerhaft in Deutschland lebt, muss sich um die Bildung seiner Kinder kümmern. Elternabende, Sprachkurse und Mitwirkung dürfen keine Option sein – sondern Voraussetzung. Bei wiederholter Verweigerung müssen Konsequenzen folgen, bis zum Schulverweis für das Kind. - Pädagogik modernisieren – altersgerecht und lebensnah unterrichten
Der Frontalunterricht des 20. Jahrhunderts ist kein Modell für das 21. Jahrhundert. Statt Auswendiglernen braucht es Projekte, Teamarbeit, digitale und kreative Kompetenzen – altersgerecht, mehrsprachig, lebensnah. Die Schule muss ein Ort werden, der zum Denken und Handeln befähigt. - Lehrerberuf attraktiv machen – durch Gehalt, Respekt und Freiheit
Lehrerinnen und Lehrer sind kein Verwaltungspersonal. Sie müssen wieder Zeit fürs Unterrichten bekommen – und Wertschätzung erfahren, nicht nur durch Worte, sondern durch Arbeitsbedingungen, die motivieren statt entmutigen. - Bildung als Staatsziel ernst nehmen – und endlich so finanzieren
Wenn der Wehretat binnen zwei Jahren um 50 % steigen kann, muss es auch möglich sein, Bildung zur echten Priorität zu machen. Ziel: 6 % des BIP für Bildung – und zwar dauerhaft.
Ein weiter so und die Augen vor den Missständen verschließen wird dazu führen, dass Deutschland keine Zukunft hat. Die einst starke Volkswirtschaft mit ihrer stolzen Metall-, Auto- und Chemie-Industrie droht ansonsten in die Drittklassigkeit abzurutschen. In der Talkshow von Markus Lanz wurde eins klar: Die Schulen sind chronisch überlastet, personell und finanziell unterversorgt. Pädagogik reduziert sich oft aufs Funktionieren – nicht aufs Fördern. Ein System, das reformiert werden muss, sollte konkrete Vorschläge für einen Neustart vorlegen, statt den Notstand zu verwalten.
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